Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke allen vor Ort Verantwortlichen an erster Stelle Ihnen, Herr Pfarrer Prof. Dr. Tschirschnitz, und Ihnen, Frau Bürgermeisterin Górska*, dafür, dass wir dieses Gedenkkreuz hier auf dem alten evangelischen Friedhof in Ortelsburg/Szczytno heute einsegnen dürfen. Dank auch an die Aktiven aus dem Kulturverein Heimat, die den Festlichen Rahmen für diese Feier und für das anschließende Büfett so fürsorglich und ansprechend gestaltet haben.
Dies ist ein besonderer Tag:
Etwas Besonderes stellt dieser Tag auch für mich, für die meisten unter uns dar:
Er setzt ein Zeichen der Erinnerung, der Trauer und der Versöhnung.
Erinnerung:
Meine Vorfahren stammen seit Jahrhunderten aus dieser Region, zum Teil lassen sie sich bis auf die Generation der Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großväter und -mütter namentlich verfolgen. Wenn ich nur diese begrenzte, verifizierbare Vorfahrensreihe überschaue, dann komme ich auf 640 Urväter und Urmütter. Nehmen wir an, dass diese Paare im Schnitt fünf Kinder zur Welt brachten - eine eher bescheidene Schätzung, denn unsere Vorfahren waren auf den verschiedensten Gebieten einsatzfreudig und ausdauernd -, so komme ich für den Zeitraum von nur knapp drei Jahrhunderten auf 1600 direkte Blutsverwandte die Cousins und Cousinen nicht mitgerechnet. Allesamt Masuren. Ich bin ein Masure. Ich bin stolz darauf. Stolz auf so viele Vorfahren, die sich von der masurischen Erde oder richtiger: von dem masurischen Sand ernährt haben.
Stolz auf jene Menschen die ein mühseliges, hartes, aber vielfach zufriedenes Leben geführt haben. Gottesfürchtig haben sie in den Protestantischen Kirchen in ihrer Not angefleht, ihm in ihren guten Zeiten gedankt. Zur Sicherheit wurde durch das Schlüsselloch der benachbarten katholischen Kirche noch ein Zusatzgebet gesprochen. Weitgehend zufriedene Lebensläufe. Es ging seit Jahrhunderten so und sollte auch noch Jahrhunderte so weitergehen. Diejenigen, die in der Landwirtschaft oder im Handwerk kein Auskommen fanden, sind ab etwa 1880 ins Ruhrgebiet abgewandert: Gelsenkirchen, Bochum, Herne und Herten wurden Zentren der Zuwanderung aus dem Kreis Ortelsburg.
Gelsenkirchen erhielt den Beinamen "Klein Ortelsburg", um 1920 stammten zwei Drittel der dortigen Bevölkerung aus Masuren. Namen wie Schimanski, Kuzorra, Szczepaniak, Pokorra oder Gryczan wurden zu typisch "westfälischen" Namen.
Trauer:
Dies alles endete am 19. Januar 1945. Der Tagesbefehl des sowjetischen Schrift-stellers Ilja Ehrenburg veränderte das Leben und Sterben der Menschen im südlichen Ostpreußen: "Die Deutschen sind keine Menschen
Wenn du einen Deutschen getötet hast. dann töte noch einen
es gibt für uns nichts Lustigeres als deutsche Leichen
Töte!" Ostpreußen war der erste Landstrich, auf den die Rote Armee ihren Fuß setzte. Der Befehl Ehrenburgs wurde konsequent, brutal und nachhaltig umgesetzt. Viele verloren das Leben. Misshandlungen trafen vor allem wehrlose Kinder, Frauen und alte Menschen, darunter meine damals 15-jährige Mutter und meinen 82-jährigen Urgroßvater. Viele Masuren flohen, ziellos, ins Ungewisse. Nur ein Teil überlebte die Flucht. Die meisten suchten irgendwo im Westen ein neues Zuhause, verbunden mit einer jahrelangen, hoffnungslosen Odyssee - von einer Notunterkunft zu anderen lieblos abgeschoben. Viele sahen ihre Heimat gar nicht mehr oder erst nach Jahrzehnten wieder. In Masuren wurde ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen.
Ich selbst wurde in Westdeutschland geboren, wuchs dort (welch eine Glück) in behüteten Verhältnissen auf. Familiäre Gespräche über die masurische Heimat gehörten zu den festen Ritualen an den Sonn- und Feiertagen, bei den Verwandtschaftstreffen. Gespräche, denen ich wie viele meiner Altersgenossen in unserer Jugend, überdrüssig wurde. Heute muss ich ob dieser Einstellung Abbitte tun: Diese Gespräche waren verzweifelte Versuche, die tiefe Trauer, den ungeheuren Verlust der Heimat bewältigen zu wollen. Ein Therapeutikum.
Versöhnung:
In dem Buch der Prediger des Alten Testamentes heißt es: "Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde." Dann folgt jene bekannte Aufzählung, an deren Ende es heißt: "Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit." streit hat es leider zwischen Polen und Deutschen dieser Region über die Maßen gegeben. Streit und Leid und Tod. Das Blatt der Geschichte hat sich gewendet: Am 7. Dezember 1970 fiel Willi Brandt, damaliger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, vor dem Denkmal im Warschauer Ghetto auf die Knie eine ausdrucksstarke Bitte an das polnische Volk um Verzeihung. Dem möchte ich mich von meiner inneren Haltung her uneingeschränkt anschließen. Fassungslos, tief betroffen stehe ich vor dem Leid das Deutsche Polen angetan haben.
Seit vielen Jahren gibt es erfreuliche Zeichen der Verständigung zwischen Polen und Deutschen, auch und gerade in dieser Region. Wir Mitglieder der Kreisgemeinschaft Ortelsburg verspüren zu Stadt und Kreis des heutigen Szczytno durch unsere Herkunft ein besonderes Maß an Verbundenheit: zu der Landschaft, zu der Geschichte und vor allem: zu den heute hier lebenden Menschen. Wir möchten mit Ihnen, verehrte polnische Freunde, einen Beitrag zur Volkerverständigung leisten. Lassen sie und ein Beispiel sein für gelingende Versöhnung. Gerade diese Region, in der es einst viele verderbliche Konflikte gab, eignet sich in besonderer Weise dazu. "Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Streit hat seine Zeit gehabt, nun soll Friede seine Zeit haben. Lassen wir nun endgültig die letzten Schatten des Streitens hinter uns! Lassen Sie uns gemeinsam in eine Zukunft deutsch-polnischer Freundschaft gehen. Lassen Sie uns ein Beispiel gebendes, leuchtendes Vorbild in Europa werden. Möge dieses Gedenkkreuz zum immerwährenden Symbol der Versöhnung zwischen uns werden.
Gott schütze uns.
Dieter Chilla, Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Ortelsburg